Assistenzsysteme: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht
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Assistenzsysteme sollen Autofahrer vor Gefahren und Unfällen schützen. Warnsignale und Eingriffe können einem aber auch den letzten Nerv rauben. Was Experten und Vielfahrer davon halten und wie weit das hochautomatisierte Fahren bereits ist, haben wir uns genauer angesehen.
„Piep, piep, piep, ich hab' Dich lieb“, schallte es 1998 aus dem Autoradio. Anders, als Guildo Horn dachte, können Pieptöne im Auto aber auch nerven. Verkehrszeichenerkennung mit Tempowarner, Spurverlassenswarner, Müdigkeitswarner: Im Auto wird heutzutage vor allem Möglichen gewarnt. Es piept, brummt und vibriert. Auf dem Bildschirm blinken Mini-Verkehrsschilder, Spurmarkierungen und diverse Symbole um die Wette. Spurhalteassistenten zerren am Lenkrad, Abstandstempomaten beschleunigen und bremsen das Auto im fließenden Verkehr von selbst, und wenn es mal hart auf hart kommt, verzögert der Notbremsassistent schneller, als ein Mensch denken kann.
Etwa ein Dutzend der elektronischen Helferlein finden sich seit dem Jahr 2024 zwingend in Neuwagen wieder. Wer glaubt, dass sich die Autoindustrie damit nur eine goldene Nase verdient, der irrt. Die Warnungen und Eingriffe haben einen ernsten Hintergrund, den der Unfalltoten. Im Jahr 2023 verunglückten rund 2,5 Millionen Verkehrsteilnehmer in Deutschland, über 2.800 verstarben. Die Todeszahlen will die EU bis 2050 auf null senken. Prognosen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) zufolge hat jedoch nur der Notbremsassistent das Zeug dazu, die Unfallzahlen mit Verletzten deutlich zu senken, immerhin über 200.000 mal pro Jahr. Anderen Hilfssheriffs, wie dem Spurhalteassistenten, werden dagegen nur minimale Erfolgschancen eingeräumt.
Autofahrer können überreagieren
Allein die Präsenz von Assistenzsystemen ist aber kein Garant für mehr Sicherheit. Die akustischen, visuellen und haptischen Aktionen bei einem vermuteten oder tatsächlichen Fehlverhalten des Fahrers können als so belästigend empfunden werden, dass die Lenker überreagieren. „Einige Autofahrer werden aggressiv, versuchen die Systeme auszuschalten und sich damit von ihnen zu befreien; andere werden nervös“, sagt Kay Schulte, Referatsleiter für Unfallprävention beim Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR).
Autofahrer verlieren Gefühl für wirkliche Gefahren
Ein typischer Aufreger: die Verkehrszeichenerkennung mit Tempowarner. „Man erhält permanent Informationen, auch wenn man nur ein, zwei Kilometer schneller fährt, als erlaubt. Dennoch muss man aufpassen, ob das angezeigte Geschwindigkeitslimit überhaupt stimmt. Das führt beim Autofahrer zu Verunsicherung und Überforderung“, stellt Schulte fest. Es drohe Reizüberflutung und die Gefahr, wichtige Geschehnisse im Verkehr nicht mehr wahrzunehmen. „Wenn das Signal immer das Gleiche ist, egal, was ich da tue, dann geht die Akzeptanz dafür komplett verloren. Man verliert das Gefühl, was wirklich gefährlich ist.“ Schulte empfiehlt der Autoindustrie, Intensitätsstufen einzuführen. „Ein Warnsignal sollte lauter werden, je kritischer die Situation wird.“
Vertrauen in Assistenzsysteme unangebracht
Der Experte wirft den Herstellern vor, bei der Entwicklung von Assistenzsystemen den Fokus nur auf die Technik zu legen und psychologische Aspekte außer Acht zu lassen: „Was ist das Risiko? Wie gehen die Menschen später mit dem Assistenzsystem um? Produziere ich Sicherheit oder noch mehr Unsicherheit?“ Er warnt aber auch Autofahrer davor, sich zu sehr auf die Technik zu verlassen. „Assistenzsysteme sollen den Fahrer im Worst-Case-Szenario unterstützen und manche Sachen einfacher machen. Autofahrer dürfen aber kein Vertrauen in die Systeme haben, die sind noch nicht so weit“, mahnt Schulte. Am Ende bleibe der Fahrer stets in der Verantwortung, was auch das Straßenverkehrsgesetz so sieht. Wer beim Abstandstempomat etwa den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand zum Vordermann vorsätzlich verkürzt, riskiert einen Auffahrunfall, da auch die Technik nicht zaubern kann.
Welche Erfahrungen Vielfahrer mit Assistenzsystemen gesammelt haben
„Den Spurhalteassistenten schalte ich sofort ab.“
Senior Key Account Manager
Fahrzeug: Seat Tarraco
Jahresfahrleistung: 100.000 km
Ingo Schmitz ist ein Vielfahrer, wie er im Buche steht. Der Außendienstler spult pro Jahr rund 100.000 Kilometer im Auto ab, vorwiegend auf der Autobahn. Auf Assistenzsysteme will er dabei nicht mehr verzichten, auch wenn das nicht für alle gilt. „Den Spurhalteassistenten schalte ich sofort ab“, sagt Schmitz. „Kommt man etwa bei der Benutzung des Radios an das Lenkrad, greift der sofort ein. Das stört mich massiv.“
Gut findet er dagegen Totwinkelwarner, Regensensor, das blendfreie LED-Fernlicht und den Abstandsregeltempomaten mit Aufprallwarner. Letzterer hat ihn schon vor Unfällen bewahrt, etwa am Stauende. Auch die Einparkhilfe benutzt er täglich, achtet bei der Bestellung seiner Dienstwagen aber immer auf das Häkchen bei der Rückfahrkamera. „Ich muss oft relativ eng einparken, trotz Dauerpiepton bleiben dann immer noch zehn bis 15 Zentimeter Platz übrig.“ Wenig hält er dabei vom automatischen Einparkassistenten seines Seat Tarraco. „Ich glaube, dass ich zehnmal besser und in viel kleinere Lücken einparke als das Ding.“
Grundsätzlich kann er sich dennoch vorstellen, das Steuer aus der Hand zu geben. „Wenn man Zeit hat, würde ich das hochautomatisierte Fahren aktivieren. Ich fahre aber einfach gerne Auto, weshalb es mir schwerfallen dürfte, das System ständig einzuschalten.“
„Der Fernlichtassistent reagiert zu langsam.“
Leiter Vertrieb und Kooperationen
Fahrzeug: Überwiegend VW Touran
Jahresfahrleistung: 80.000 km
Für Dr. Christian Enz sind Assistenzsysteme Fluch und Segen zugleich. Sie schützen ihn vor Karambolagen und Unfällen, bleiben aber nicht fehlerfrei. „Der Fernlichtassistent reagiert zu langsam.“ Obwohl der Gegenverkehr bereits mehrfach die Lichthupe betätige, blende das System viel zu spät ab, missbilligt Enz. Geholfen hat ihm dafür bereits mehrfach der Notbremsassistent. „Auf einem Parkplatz habe ich beim Rückwärtsfahren einen Poller übersehen. Ich wäre wahrscheinlich draufgefahren, wenn der Notbremsassistent nicht abrupt eingegriffen hätte.“
Enz schätzt allerdings nicht alle Eingriffe in den Fahrbetrieb, so wie die des Spurhalteassistenten. Bei seinem Zweitwagen, einem chinesischen MG Marvel R, versetze das Fahrzeug mit aktiviertem Spurhalteassistenten in Baustellen urplötzlich oft um einen halben Meter. Aus Sicherheitsgründen schalte er die Hilfe auf Autobahnen daher lieber ab. Einschalten würde er dagegen autonome Funktionen, sofern sie vollständig getestet seien. „Bei schlechtem Wetter, bei dem Assistenzsysteme besonders wichtig sind, fallen diese oft noch aus; der Fahrer muss dann sofort übernehmen. Derzeit sehe ich diese Schnittstelle noch als zu problematisch an.“
„Grundsätzlich würde ich dem System eine Chance geben.“
Geschäftsführer
Fahrzeug: Ford Kuga
Jahresfahrleistung: 50.000 km
Sebastian Erkes fährt nicht nur Auto. Der Geschäftsführer eines Nutzfahrzeughandels bewegt beruflich auch schwere Lkw und kennt sich mit Assistenzsystemen aus. Gefahrensituationen sind ihm nicht fremd, besorgt zeigt er sich aber darüber, wenn diese vom elektronischen Helfer selbst ausgelöst werden. „Der Spurhalteassistent überrascht dich bei Lkw oder Pkw mit Anhänger mit Aktionen, die du nicht geplant hast, etwa bei Seitenwind. Normalerweise legt man etwas Gegendruck auf das Lenkrad, damit der Gegenschlenker nicht so massiv ausfällt und lässt das Fahrzeug gewähren. Wenn das Assistenzsystem den Wagen aber plötzlich zurückdrückt, gibt es ihm einen Impuls zum Schlingern“, beobachtet Erkes. Deshalb schalte er den Spurhalteassistenten bereits kurz nach Fahrtantritt aus. Beim Pkw fährt er lieber klassisch, meist ohne Unterstützung. Mit Ausnahmen: Im schwimmenden Verkehr vertraut er sich dem Abstandstempomaten an und hört auf unbekanntem Terrain auch dem Tempowarner zu. Das hochautomatisierte Fahren befürwortet er. „Grundsätzlich würde ich dem System eine Chance geben“, sagt Erkes. „Menschen legen ihre Vollkasko-Mentalität in die Hände eines Smarthomes, warum sollten dann Autos nicht auch automatisiert fahren können?“
„Ich verlasse mich nicht auf die Verkehrszeichenerkennung.“
Key Account Manager,
Fahrzeug: VW Golf Variant
Jahresfahrleistung: 65.000 km
Julian Greiwes aktueller Dienstwagen, ein VW Golf, besitzt weniger Assistenzsysteme als sein vormaliger Skoda Octavia. Schmerzlich vermisst der Vertriebler dabei den Totwinkelwarner. „Wenn man viel unterwegs ist, ist der Sicherheitsaspekt beim Überholen mit dem Assistenten doch sehr groß“, sagt Greiwe. Das gilt aber nicht für alle Helferlein. „Ich bin kein Freund vom Spurhalteassistenten, den schalte ich immer aus. Auf meinem Nachhauseweg gibt es eine Stelle ohne Fahrlinienbegrenzung an einer Fußgängerinsel, bei dem mich das Auto sonst regelmäßig in den Wald lenkt.“ Anders als der Octavia greife der Golf jedoch viel sensibler in die Spurführung ein.
Sensibel geht Greiwe mit der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit um. „Wenn ich es nicht genau weiß, fahre ich lieber langsamer als schneller.“ Der Grund: „Ich verlasse mich nicht auf die Verkehrszeichenerkennung.“ Das Assistenzsystem zeige zu oft falsche Geschwindigkeitsbeschränkungen an. Da Greiwe in seinem Leben schon mal einen Auffahrunfall am Stauende erleben musste, weiß er, was er in jüngerer Zeit am Notbremsassistenten hat. „Das Auto hat früher eingegriffen und eine sehr gefährliche Situation abgewendet. Das wäre sonst schiefgegangen.“
Positiv steht er dem hochautomatisierten Fahren gegenüber. „Für das, was ich tagtäglich im Beruf so brauche, wäre Level 3 Gold wert.“ Allerdings fehlt ihm noch das Vertrauen, sich von einer Maschine kutschieren zu lassen, ohne hinzublicken.
Tempo bei Level 3 gesteigert
Seit 2022 können Mercedes-Benz-Modelle der S-Klasse und des vollelektrischen EQS mit dem hochautomatisierten Fahrsystem (Level 3) namens Drive Pilot ausgerüstet werden. Unter bestimmten Voraussetzungen dürfen Autofahrer auf Autobahnen das Lenkrad loslassen und sich vom Verkehr abwenden. Mercedes-Benz zufolge ist es dem Fahrer erlaubt, Videos zu schauen, Zeitung zu lesen oder zu arbeiten. Er muss jederzeit wieder für die Übernahme bereit sein, wenn das Fahrzeug ihn dazu auffordert oder es die Situation erfordert. Auch in Baustellen oder Tunneln muss er selbst ran, dort funktioniert das System generell nicht. Die Höchstgeschwindigkeit mit aktiviertem System betrug bislang 60 km/h. Nach Genehmigung durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) im Dezember 2024 wird sie von Mercedes-Benz ab Frühjahr 2025 auf 95 km/h angehoben. Bereits gebaute Fahrzeuge erhalten das Update auf die neueste Generation kostenfrei in der Werkstatt oder over-the-air.
Kay Schulte (DVR) rät Autofahrern jedoch davon ab, sich zu sehr Nebentätigkeiten zuzuwenden. Das Straßenverkehrsgesetz (§ 1b) verpflichte selbst beim hochautomatisierten Fahren stets wahrnehmungsbereit zu bleiben. Ein vollständiges Abwenden vom Verkehr sei daher nicht zulässig. Die Verantwortung liege weiterhin voll beim Fahrer.
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